Das Internet ist voll von Schlagzeilen, die uns emotional packen sollen – manchmal so sehr, dass dabei die Realität verzerrt wird. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel ist ein aktueller Artikel des Tagesspiegels über Kaja Kallas, die neue Außenbeauftragte der EU. Die Überschrift lautet:
„Kaja Kallas über ihr Leben unter sowjetischer Herrschaft: ‚Freiheit kann man erst richtig verstehen, wenn sie einem genommen wurde‘“
Das klingt eindrucksvoll – aber stimmt das auch? Oder, so mein Verdacht, wurde die Seite speziell mit Microtargeting für mich präpariert, in der Annahme, dass ich zum Klick verleitet werde – was ja auch letztlich gelungen ist, wodurch sich jedoch meine Abneigung gegen jegliche Form von Microtargeting verstärkt hat.
Zu jung für „Leben unter sowjetischer Herrschaft“?
Kaja Kallas wurde 1977 geboren. Als Estland 1991 unabhängig wurde, war sie 14 Jahre alt. Als Gorbatschow 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde – ein Wendepunkt in der Sowjetgeschichte – war sie gerade einmal acht. Die harte Phase der Repression lag da bereits Jahrzehnte zurück.
Natürlich hat sie die letzten Jahre der Sowjetunion als Kind erlebt – aber war das wirklich ein Leben unter politischer Unterdrückung, das ihre Aussage rechtfertigt? Oder bezieht sich diese dramatische Formulierung eigentlich auf die Erfahrungen ihrer Familie, insbesondere ihres Vaters Siim Kallas oder der Großeltern, die unter sowjetischen Repressalien litten?
Wenn das so ist – warum steht das nicht so in der Überschrift?
Emotionalisierung statt Präzision
Genau hier liegt das Problem: Die emotional gewählte Titelzeile erweckt beim Leser ein falsches Bild. Sie spielt mit historischen Erinnerungen und einer gewissen moralischen Autorität, ohne klarzustellen, dass Kallas selbst ein Kind war, als die Sowjetunion endete. Der Artikel selbst differenziert später durchaus – aber die Überschrift verkauft ein anderes Narrativ.
Warum? Ganz einfach: Weil es klickt.
Emotionale, dramatisierende Titel wirken. Sie erzeugen Aufmerksamkeit – selbst wenn sie mit der Realität nur lose verbunden sind. Es ist ein Muster, das wir überall sehen: Überschriften, die Interesse wecken sollen, auch wenn sie kontextlos, übertrieben oder sogar irreführend sind.
Manipulation durch Kontextverschiebung
In der Suchmaschine erscheint direkt neben dem Artikel ein YouTube-Video über Stalin und die Ukraine in der Zwischenkriegszeit. Zufall? Algorithmus? Sicher. Aber was bleibt beim Leser hängen?
Kallas – Sowjetunion – Stalin – Repression
Das ist die assoziative Macht der Bilder, auch wenn sie logisch nicht zusammengehören. So wird subtil ein Eindruck erzeugt, der die tatsächliche historische Dimension verschiebt – weg von der nüchternen Realität, hin zu einer emotional aufgeladenen Erzählung.
Mein Titelbild: Medienmechanismen sichtbar machen
Deshalb habe ich das oben gezeigte Bild gestaltet – nicht als bloße Kritik am Tagesspiegel, sondern als Aufruf zu mehr Medienkompetenz. Es zeigt:
- wie leicht sich durch Titel und Kontext eine Geschichte erzählen lässt, die so gar nicht stattgefunden hat,
- wie Emotion und Clickbait seriöse Medienlogik zunehmend unterwandern,
- und wie wichtig es ist, zwischen tatsächlicher Erfahrung und erinnerter Geschichte zu unterscheiden.
Fazit: Medien kritisch lesen lernen
Ich will Kaja Kallas nicht unterstellen, dass sie etwas Unwahres gesagt hat. Aber ich will bewusst machen, wie leicht ihre Worte durch geschickte journalistische Verpackung eine Wirkung entfalten, die mit der Wahrheit nur noch teilweise übereinstimmt.
Denn das Problem liegt nicht nur im Inhalt – sondern darin, wie dieser Inhalt präsentiert wird. Und genau das sollten wir heute mehr denn je hinterfragen.